Arno Stern wurde am 23. Juni 1924 in Kassel geboren und verbrachte dort die Jahre seiner frühen Kindheit. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, flüchtete er mit seinen jüdischen Eltern etappenweise nach Frankreich und später in die Schweiz. Nach Jahren, die von Armut, körperlich schwerer Arbeit und auch Angst geprägt waren, kehrte er nach dem Ende des zweiten Weltkrieges zurück nach Frankreich.

Als 22-Jähriger fand er in einem Pariser Vorort 1946 eine Anstellung in einem Heim für Kriegswaisen. Seine Aufgabe dort war es, die Kinder zwischen den Schulstunden zu beschäftigen.

 

Arno Stern ließ sie malen.

 

Die Kinder hatten ein Bedürfnis danach und mit der Zeit kristallisierten sich bestimmte Bedingungen heraus, unter denen sie sich ihrem malenden Spiel am besten widmen konnten. Um mehr Platz zum Malen zu haben, kam das Papier an die Wand. Fenster wurden zum selben Zweck mit Brettern verschlossen, Farben und Pinsel waren in der Mitte des Raumes platziert, gemalt wurde nebeneinander im Stehen. An diesen grundsätzlichen Bedingungen hat sich bis heute im Malort nichts geändert. Der Malort ist ein Ort der Beständigkeit mit unveränderlichen Bedingungen, die Sicherheit, Ruhe und Geborgenheit vermitteln. Struktur und Freiheit stehen hier im Einklang und ermöglichen ein ritualisiertes Geschehen.

 

Jeder der Malenden, ob Kind oder Erwachsener, hat seinen persönlichen Raum und ist gleichzeitig Teil einer Gruppe, die keineswegs durch Konkurrenz oder Wettbewerb geprägt ist. Im Gegenteil, hier wird achtsam miteinander umgegangen und das hochwertige Material miteinander geteilt. Es ist ein stetes Hin- und Herschwanken zwischen Gemeinsamen und Persönlichem. Am allerwichtigsten ist jedoch der Umstand, dass die gemalten Äußerungen, die den Händen der Teilnehmenden als Spur entfließen, nie kommentiert, bewertet oder interpretiert werden. Es werden ebenso wenig Themen vorgegeben, bestimmte Techniken vermittelt oder gar belehrt. Diese wichtigen Umstände machen es möglich, dass die Malenden von der Verpflichtung befreit sind, eine Botschaft in ihrem Bild zu erschaffen. Das Gemalte dient nicht der Kommunikation, will niemandem etwas zeigen und bedarf keiner Erklärung, sondern kann im persönlichen Spielraum des Blattes einfach geschehen ohne Ziel und ohne Absicht. Jeder legt sich seine Welt nach Maß an.

Diese besonderen Bedingungen lassen jeden Malenden eine doppelte Erfahrung machen. Erstens sich uneingeschränkt selbst zu erleben inmitten anderer. Und zweitens nicht auf Kosten anderer, sondern als ein natürliches Miteinander.

 

Auf dem Papier etwas zu Malen, entspringt einem natürlichen Bedürfnis tiefer liegenden Ursprunges. Dass das so ist, hat Arno Stern im Laufe vieler Jahre beobachtet. Er erkannte bei der Betrachtung der zahllosen Bilder auch jenes Phänomen, das er später die Formulation nennen wird. Er erkannte, dass jene unbewusste, unbeeinflusste spontane Spur, die alle Menschen auf dem Papier hervorbringen, im Rahmen eines allgemeingültigen Programms abläuft, also einer universellen Gesetzmäßigkeit. Uns Menschen wohnt auch in diesem wie in anderen Entwicklungsbereichen ein genetisches Programm inne.

 

Armo Stern unternahm bewusst Forschungsreisen zu Menschen, die weder künstlerich noch schulisch je belehrt worden sind. Die Suche nach solchen Menschen führte ihn nach Mauretanien, Mexiko, Peru, Äthiopien, Guatemala, Afghanistan, Niger und Neuguinea. Was er beobachtete, als er den Menschen dort Farbe und Papier anbot, bestätigte seine Vermutungen über die natürliche Spur. Zeitgleich erweiterte er das System der immer wieder auftauchenden Grundfiguren während des Entwicklungsprozesses der Formulation. Ob Menschen im Urwald oder in der Wüste, alle bildeten die selben Grundfiguren, die dem geordneten Gesamtablauf der Formualtion angehören. Arno Stern archievierte seit Anbeginn des Malspiels alle enstandenen Bilder. Sein Archiv umfasst mittlerweile über 500.000 Bilder – allesamt Zeugnisse der Spur und Formulation.

 

Der Ursprung dieser Spur ist die organische Erinnerung. Die heutige neurobiologische Forschung bestätigt, dass es in den Zellen jedes Menschen eine Art Gedächtnis gibt – nicht im bewussten Sinne, aber hier sind bestimmte Eintragungen in Zellkernen zu finden. Besser verstehen lässt sich dieses wohl, wenn man sich persönlich fragt, welche die frühste Erinnerung ist, die man abrufen kann. Bei den Meisten werden sich diese Erinnerung um das 3. oder 4. Lebensjahr herum bewegen. Dass die Jahre bis dahin und auch die pränatale Zeit, also die im Mutterleib, uns als Mensch geprägt hat, ist schon länger aus der Embryonalforschung bekannt. Sie sind nicht durch Nachdenken bewusst abrufbar und dennoch vorhanden – und erreichbar. Die Aufspeicherung früher Erfahrungen entzieht sich zwar dem Verstand und kann nicht in Worte gefasst werden. Wenn man aber das Malspiel erlebt, kann man den Weg zurück zu diesem tiefen Anfang finden. Hier kann sich etwas äußern, das sich der Vernunft, der Absicht entzieht. Und dies ist eine beglückende Begebenheit, die in uns Erfüllung hervorruft, weil sie alles Fehlende ergänzt. Dem Verlangen des Darstellens geht das Bedürfnis voran, nach sich selbst zu greifen. Würde diese organische Erinnerung verloren gehen, wäre ein wesentlicher früher Aspekt unseres Menschseins ausgelöscht.

 

Der persönliche Mehrwert des Seins im Malort lässt sich durch den Prozess des Tuns definieren. Es zählt der beglückende Augenblick, der Teilnehmenden allen Alters im Verlauf eine persönliche Stärke, Achtsamkeit und inneres Wachstum ermöglicht. Erlebbar werden die eigene Begeisterung und Freude, Momente höchster Präsenz und innerer Verbundenheit und nicht zuletzt Zufriedenheit. Als Ergoherapeutin und Medizinpädagogin komme ich nicht umhin, auch andere Kompetenzbereiche aufzuzählen, wobei ausdrücklich betont sei, dass es sich beim Malspiel nicht um eine (kunst)therapeutische Maßnahme handelt. Im besten Fall wirkt es therapievorbeugend. So fördert es die Konzentration, Geduld und Ausdauer. Es verbessert Komponenten der Feinmotorik wie Koordination und Kraftdosierung. Man kann spontane Kreativität entwickeln und das mentale Loslassen wird unterstützt. Es führt zu mehr Selbstvertrauen und ermöglicht selbstbewusste, autonome Entscheidungen und Taten. Aus dem besonderen Miteinander und Nebeneinander im Malort kann auch ein wohlwollendes Sozialverhalten entstehen, aus dem wiederum eine positive Lebenseinstellung erwachsen oder bestätigt werden kann. Eine Haltung gegenüber anderen Menschen, die geprägt ist von gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz, vom sich nicht schützen müssen, sich furchtlos begegnen können, sich nicht abriegeln müssen, weil man einen Zugang zu den anderen hat. Ist dies nicht wünschenswert für unsere Gesellschaftsordnung?

 

Arno Stern wird seit der Gründung seines ersten Malortes 1949 (erst „Académie du Jeudi" z. dt. „Donnerstagsakademie“ und später mit verlegtem Standort „Closlieu" – im Deutschen „Malort“) nicht müde, über das schöpferische Spiel auf dem Papier nachzudenken und seine Erkenntnisse zu teilen. So wurde er beispielsweise als Experte der UNESCO zum ersten internationalen Kongress über Kunsterziehung in Bristol delegiert. Es folgten zahlreiche Symposien und er referierte seit jeher als Gastdozent. Er richtete auch in zwei bedeutenden Pariser Spitälern Ateliers ein und arbeitete lange Zeit mit psychisch kranken Kindern und Erwachsenen. 1987 gründete er ein Forschungsinstitut für Ausdruckssemiologie (I.R.S.E.) und bildet Mitarbeiter aus vielen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens aus. Arno Stern selbst sieht sich weder als Künstler noch als Psychologe. Er ist Pädagoge und Forscher. Prof. Dr. Gerald Hüther (Neurowissenschaftler) sagt „Arno Stern ist einer der ganz grossen Wissenschaftler...“ (Nationalbibliothek Wien, 6. November 2015) und Dr. Michel Odent sieht in seiner Arbeit einen vielversprechenden Weg, um das Spiel aus der Perspektive der Urgesundheitsforschung zu untersuchen („Brauchen wir Hebammen?“ Juni 2015). Der Präsident der Universität Sorbonne Jamil Jean-Marc Dakhila bezeichnet ihn als letzten großen Entdecker, mit dessen Namen der Geschichtsunterricht heute rechnen muss. (La Sorbonne, 9. September 2019)

 

Arno Stern hat mit dem Malort einen Ort geschaffen an dem der Mensch zu sich selbst kommt. Das geschieht ganz unbeschwert, denn es gibt hier keine Forderungen, keinen Druck, keine Erwartungen oder Verpflichtungen. Hier erlebt sich jeder als Subjekt, nicht als Objekt (Vgl. Prof. Dr. Gerald Hüther). Genau so einen Ort der Beständigkeit benötigen wir heute mehr den je, ist unsere Welt doch bestimmt von Schnelllebigkeit und der allgegenwärtigen Erwartung der Selbstoptimierung. Zudem kommen künstliche (bewegte) Bilder die durch ihre Allgegenwärtigkeit in uns eindringen und wahrhaftiger werden als das wirkliche Erleben.

Im Malort kann jeder den Weg zu sich selbst zurück finden.

Kommen. Malen. Sein.

In diesem Sinne komm´ Malspielen!